Ständig wollen mir Stimmen da draußen erzählen, dass die Menschen Veränderung hassen. Wer sich eine derart defizitorientierte Sicht zu eigen macht, blockiert sich und andere für jeglichen Wandel. Denn Energie folgt der Aufmerksamkeit. Natürlich mag unser Denkapparat das Bekannte und die Routinen, weil beides Sicherheit bietet und Energie sparen hilft. Zugleich üben Herausforderungen eine starke Faszination auf uns aus. Wir empfinden Stolz und erleben Hochgefühle, wenn wir uns weiterentwickeln, um eine bessere Zukunft für uns selbst und andere möglich zu machen.
Veränderungslust hat uns Fortschritt gebracht
Der Drang, Grenzen zu überwinden und Neues in die Welt zu bringen, ist universell. Ist der Mangel an Wandlungswille also ein Mythos? In klassischen Change-Prozessen muss man, wie es einschlägig heißt, durch ein „Tal der Tränen“, damit Wandel gelingt. In der Fachliteratur wird auch gerne behauptet, es brauche Leidensdruck, um Veränderungsbereitschaft in Gang zu bringen. Doch das stimmt nur vereinzelt.
Sehr vielen Menschen macht es Freude, besser zu werden. Ohne jeden Leidensdruck lassen sie Veraltetes hinter sich und beginnen mit etwas Neuem. Leidensdruck entspringt der Denke in erkalteten Unternehmenskulturen. Zukunftsgewandte Unternehmen hingegen haben verstanden, wie wichtig es ist, Dinge zu optimieren und sich zu transformieren. Sie gehen den Wandel mit Lust und Leidenschaft an.
Gestaltungswille ist eine menschliche Superkraft
Eine Zukunft, in der wir gerne leben, wird von Menschen gemacht, denen eine gute Zukunft am Herzen liegt. Unser Verbündeter ist die Evolution. Sie favorisiert ehrgeiziges Leben, das sich an die jeweiligen Umstände aktiv anpassen kann. Sie stellt den Pioniergeist vor das Beharren und den üblichen Trott. Neugier, Wissensdurst und Lernbereitschaft sind uns angeboren – und die wichtigsten Treiber, um voranzukommen.
Wir sind die Nachfahren derer, die eine bessere Zukunft wollten und deshalb den Fortschritt wagten. Und mal ehrlich: Oft sind wir doch einfach nur froh, wenn auf etwas schlechtes Bestehendes etwas besseres Neuartiges folgt. Ständig ändern wir was, wenn das Danach uns attraktiver erscheint als das Davor. Wäre dem nicht so, säßen wir noch immer strubbelig und halbnackt in Höhlen und würden frieren.
Das Phänomen der heißen und kalten Kulturen
Zwangsläufig muss, damit etwas Neues entsteht, etwas Altes beiseitetreten. Die dafür notwendige Veränderungsbereitschaft hängt einerseits mit dem Persönlichkeitstyp und andererseits mit dem Reifegrad einer Gesellschaft oder Unternehmenskultur zusammen. Bereits in den 1960er-Jahren führte dazu der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen „kalten“ und „heißen“ Kulturen ein.
„Heiße“ Gesellschaften sind durch ein tiefgreifendes Bedürfnis nach Wandel gekennzeichnet, weil dies ihnen Fortschritt und ein besseres Leben verspricht. Sie zeigen eine hohe Flexibilität in neuen Situationen. In „heißen“ Gesellschaften ist zum Beispiel der Anteil junger, ambitionierter Menschen sehr hoch. Sie haben nichts zu verlieren und können eine Menge gewinnen.
„Kalte Gesellschaften“ sind Bestandsbewahrer
„Kalte Gesellschaften“ hingegen haben viel erreicht und deshalb auch viel zu verlieren. Sie klammern sich an Altbewährtes und hüten ihren Bestand. Solche Gesellschaften sind satt und behäbig. Sie bewegen sich mit Rollatortempo voran. Neues macht ihnen Angst. Zukunftsangst. Je kälter eine Gesellschaft, desto ausgeprägter ist ihr Bestreben, ihre traditionellen Kulturmerkmale möglichst unverändert zu bewahren.
Zudem glauben die Individuen in einer kalten Gesellschaft, dass es von nun an nur schlechter werden kann. Die Menschen in „heißen“ Kulturen glauben das nicht. Eine Kultur wird als umso heißer eingeordnet, je größer ihr Antrieb zu schnellen Weiterentwicklungen ist. Für kalte Kulturen beinhaltet jede Krise die Gefahr des Untergangs. Für heiße Kulturen ist jede Krise eine Chance zum Aufstieg.
Die „Heißen“ ziehen an den „Erkalteten“ vorbei
Aufstrebenden Nationen bieten sich „oftmals die besten Aussichten auf die Zukunft, während jene mit dem Etikett ‚hochentwickelt‘ so sehr mit gewohnten Denk- und Handlungsweisen verbunden sind, dass sie Schwierigkeiten haben, sich von der Vergangenheit zu lösen“, schreibt der Soziologe Mauro F. Guillén. So ziehen immer mehr „Heiße“ in immer mehr Bereichen an den „Erkalteten“ vorbei.
Die Menschen in „heißen“ Kulturen halten nicht stoisch fest an dem, was sie schon haben. Denn sie haben noch wenig. Umso größer sind Tatkraft, Leidenschaft und Motivation. Sie träumen keine kleinen Träume, sondern die großen. Sie wollen es nicht etwas besser haben, ihr Ziel sind die Honigtöpfe der Zukunft. Das ist der Persönlichkeitstyp Vorwärtsstürmer. Solche Menschen haben ein „Growth Mindset“.
Heiße Gesellschaften haben ein „Growth Mindset“
Der Begriff „Growth Mindset“ stammt von Carol Dweck, Professorin für Psychologie an der Stanford University. Menschen mit einem „Growth Mindset“ sind offen, mutig, optimistisch und kreativ. Sie sind aktiv Handelnde und Schmied ihres Glücks. Sie lieben Herausforderungen und strengen sich ausdauernd an, um sich stetig weiterzuentwickeln. Sie haben Interesse an persönlichem Wachstum und Lust auf ein besseres Morgen.
Zudem haben sie eine hohe Frustrationstoleranz. In Misserfolgen sehen sie Ansporn auf ihrem Weg zum Erfolg. Sie können es „im Moment noch nicht“, das Ergebnis war „noch nicht ganz“ das Richtige, aber das wird schon, wenn sie es weiter probieren. Erwartungsvoll stoßen sie auf ihrem Weg ins Neuland die Türen zum Nächstmöglichen auf. So schaffen sie ein dynamisches Umfeld des Lernens und Wachsens.
Das „Fixed Mindset“ bevorzugt den Status quo
Ihnen gegenüber stehen Individuen mit einem „Fixed Mindset“. Solche Menschen bleiben lieber auf der sicheren Seite und bevorzugen den Status quo. Sie konzentrieren sich auf das, was sie schon können und favorisieren Erprobtes. Wenn es um Wagnisse geht, werden sie von Versagensängsten geplagt: „Das klappt ganz gewiss nicht! Das war noch nie meine Stärke! Man weiß ja nie, was schiefgehen kann!“
So werden sie zu Opfern der Geschichten, die sie sich selbst immer wieder erzählen. Solche Geschichten sind wie eine Regieanweisung zum Fiasko, sie vereiteln den Sieg. Das „Fixed Mindset“ beharrt auf seiner Meinung und misstraut dem Neuen. Statt seine Energie auf eine Lösung zu lenken und zu würdigen, was schon gelingt, ergeht es sich in Meckern, Klagen und Jammern, gibt anderen Schuld und redet sich in eine Problemtrance hinein.
Erkaltende Hochkulturen erzeugen „Brain Drain“
In erkaltenden Hochkulturen hätscheln Erstarrte ihre Heldentaten von früher, statt den Blick weit in die Zukunft zu lenken. Sie fürchten um ihre Habe und den sozialen Abstieg. Deshalb versuchen sie krampfhaft, zu schützen, was sie besitzen. Wandel ist für sie keine Chance, sondern Gefahr. Das Neue am Neuen wird nicht mal verstanden, weil sie es durch die Brille ihres überholten Wissens und Könnens betrachten.
Führungskräfte und Unternehmenskulturen mit einem Fixed Mindset („Das haben wir immer schon so gemacht!“ „Das hat sich bei uns so bewährt!“ „Das ist beim Chef nicht durchsetzbar!“ „So modernes Zeugs passt für uns nicht!“) erzeugen „Brain Drain“, den Abgang von Intelligenz und Verstand. Denn die, die die „kalten“ Regionen verlassen, um in wärmere Gefilde zu ziehen, sind jung im Kopf, gebildet, ambitiös und innovativ.
Lust auf Veränderung? Oh ja, selbstverständlich!
Gelingender Wandel braucht also zweierlei: Menschen mit einem „Growth Mindset“ und „heiße“ Unternehmenskulturen. In einem solchen Umfeld kann jede und jeder zum Schöpfer werden, um eine bessere Zukunft mitzugestalten.
Die entscheidende Frage dabei lautet:
Was geht denn schon mal?
Jede Veränderung braucht ein mehr oder weniger hohes Maß an Anfangsenergie, um von einem statischen Zustand aus in Bewegung zu kommen. Deshalb sind Quick Wins so wichtig. Quick Wins sind schnelle Erfolge, die angepeilt werden können und müssen, um rasch aus dem Startblock zu kommen. Wir sind von Natur aus auf schnelle Resultate fixiert und favorisieren, was uns sofortige Vorteile bringt.
Die maßgebliche Regel dabei heißt:
Fang selbst schon mal an!
Wenn alle darauf warten, dass andere den ersten Schritt tun, wird niemand jemals etwas tun. „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde“, hat die Kulturanthropologin Margaret Mead einmal gesagt.
Insofern lautet eine weitere Regel:
Bleib nicht allein!
Wer Großartiges erschaffen will, sucht nach Mitstreitern, tut sich mit Gleichgesinnten zusammen und feiert selbst kleinste Anfangserfolge. „Schaut, wo wir schon sind und was wir geschafft haben. Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter.“ Ein Weg entsteht dadurch, dass er begangen wird. Zusammen schaffen wir es immer weiter nach vorn.
Viel mehr dazu, wie Innovation, Wandel und Transformation gelingen, steht in meinem neuen Buch „Zukunft meistern„.