Kennen Sie das Narrativ von der Ampel und dem Kreisverkehr? Es stammt von Julian Wilson, Mitgründer des britischen Flugzeugindustriezulieferers Matt Black Systems (MBS). Traditionelle Old-School-Unternehmen, sagt er, agieren wie Ampelsysteme, New-School-Unternehmen agieren analog einem Kreisverkehr.
Die Ampel funktioniert nach dem Befehl- und Gehorsam-Prinzip. Sie ist zentral gesteuert, sie diszipliniert – und sie verursacht Stress durch „stop and go“. Die Verkehrsteilnehmer sind fremdbestimmt. Das macht sie aggressiv, oft mit sehr kurzer Lunte. Zwar sollen harte Strafen einer Kontrollinstanz dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden. Aber man verstößt dennoch dagegen. Das System austricksen, sich nur nicht erwischen lassen: für viele ein richtiger Sport.
Der Kreisverkehr hat zwar auch ein paar wenige Regeln, im Wesentlichen jedoch herrschen Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. Die Interaktionen sind selbstorganisiert. Kommunikativ stimmen die Verkehrsteilnehmer sich untereinander ab. Aggressives Verhalten wie an einer Ampel gibt es nur selten. Der Verkehr rollt, und man kommt zügig voran, ohne Stress und ständiges Warten. Denn ein Kreisverkehr erlaubt deutlich mehr Durchfluss als ein Ampelsystem.
Experimente zeigen zudem, dass die Wachsamkeit nachlässt, sobald man die Kontrolle einem System übergibt. So verursacht eine Ampelanlage erheblich mehr Unfälle als ein Kreisverkehr – und die Unfallschäden sind schlimmer. Zudem sind die Aufbau- und Betriebskosten eines Ampelsystems sehr viel höher. Der Kreisverkehr ist nicht nur effizienter, er senkt auch Emissionen und Energieverbrauch – und schont damit die Umwelt. Und, wenn ansprechend gestaltet, ist er sogar ein Augenschmaus.
Etwas absegnen lassen müssen? Sind die Oberen Götter?
Der Vergleich zwischen Ampel und Kreisverkehr erinnert mich an viele Situationen im Unternehmen. Ampeln machen den Verkehr langsam und verhindern, das alles fließt. Selbst dann, wenn es keinen Gegenverkehr gibt, sind wir gezwungen, anzuhalten und unnötig zu warten, weil die Obrigkeit das so will. Würde man in klassischen Unternehmen öfter auf Kreisverkehr schalten, ginge es deutlich schneller voran. Das betrifft vor allem Entscheidungsprozesse, denn hier steht die Ampel zu oft auf rot.
Es bringt zum Beispiel rein gar nichts, wenn ein selbstorganisiertes Team im Schnellsprint ein Kundenprojekt bis zur Umsetzungsreife entwickelt, dieses Projekt dann aber wochenlang in einem klassischen Toplevel-Gremium hängenbleibt, weil es dort „abgesegnet“ werden muss. Sich etwas absegnen lassen müssen heißt: Unterwerfung vor einer höheren Macht. Sind Führungskräfte denn Götter?
Entscheidungsprozesse wie bei Spotify: eine gute Idee
In vielen klassischen Unternehmen laufen die Genehmigungswege noch immer wie anno dazumal: Selbst Entscheide von geringem Umfang werden in die nächsthöhere(n) Hierarchiestufe(n) verlagert, also dorthin, wo man oft weniger von einer operativen Sache versteht. Zudem verlangsamen die teils mehrstufigen Freigabeprozesse zeitnahe Reaktionen. In der Hochgeschwindigkeitszukunft ist die Fähigkeit zu guten und zugleich raschen Entscheidungen aber fundamental, um nicht von der schnelleren Konkurrenz überholt zu werden.
Beim schwedischen Streamingdienst Spotify, Weltmarktführer für Musikvermarktung mit mehr als 8.000 Mitarbeitern, sieht man das so: Ein guter Mitarbeiter trifft in 70 Prozent aller Fälle dieselben Entscheidungen wie sein Chef. In 10 Prozent der Fälle ist der Chef darin besser. Und zu 20 Prozent fällt der Mitarbeitende die besseren Entscheidungen, weil er näher an einer operativen Sache dran ist und deshalb davon mehr Ahnung hat. Weshalb sollten Obere, sofern es um das Tagesgeschäft geht, also absegnen und Häkchen machen?
Häkchenmachen macht aus Chefs Edelsachbearbeiter
Messen Sie doch mal in der Firma, wie oft das Absegnen reine Formsache ist. Und dann lasst das! Wenn eh meist Übereinstimmung herrscht, sind Bewilligungsmarathons pure Ressourcenverschwendung. Der Chef als Edelsachbearbeiter, der seine Zeit mit Häkchenmachen verplempert? Wer sich mit Kleinkram rumschlagen muss, weil alles über seinen Schreibtisch wandert, wird zum Mikro-Manager, ob er will oder nicht.
Und all das lässt sich bepreisen: die Zeit hochbezahlter Führungskräfte, deren Aufgabe eigentlich das Strategische wäre, Wichtiges, das liegenbleibt, Demotivation, Fluktuation. Obendrauf kommen weitere Kosten, wenn Obere auch darüber befinden, ob die Ideen der Mitarbeitenden umgesetzt werden: entgangene Ersparnisse, weil ein Verbesserungsvorschlag liegen blieb oder entgangene Erlöse, weil ein innovativer Vorstoß den Markt nicht erreicht.
Aufwendige Entscheidungswege brauchen ein Preisschild
Vormarsch und hohes Tempo sind nur dann machbar, wenn zwischen Entscheidung und Umsetzung möglichst wenig Zeit vergeht. Viele Unternehmen sind davon weit entfernt. Anschaffungen ab 100 Euro – oft auch darunter – brauchen dort die Unterschrift eines Entscheidungsträgers. Hierfür ist aufwendig ein Formular auszufüllen. Zu allem Übel ist der Chef zwei Wochen in Urlaub, danach türmt sich bei ihm die Arbeit.
Als endlich grünes Licht kommt, ist der Kunde, für dessen Auftrag dieses Teil notwendig war, weg. Er konnte nicht länger warten. Neben den Kosten für die interne Prozessabwicklung beläuft sich der entgangene Umsatz auf 10.000 Euro. Der ganz normale Wahnsinn in autokratischen Unternehmen, in denen aufwendige Entscheidungsprozesse vor allem dem Machterhalt dienen. „Es macht keinen Sinn, kluge Köpfe einzustellen und ihnen dann zu sagen, was sie zu tun haben. Wir stellen kluge Köpfe ein, damit sie uns sagen, was wir tun können“, konstatiert Steve Jobs.
Erst wollen die Firmen die besten Mitarbeiter und dann werden die geführt, als ob sie keine eigenen Entscheidungen treffen können. Neulich sprach ich darüber mit Karsten, der sagte: „Ich wurde als Senior eingestellt und als Senior bezahlt – aber behandelt wie ein Azubi. Alles musste ich mir genehmigen lassen. An Veränderungsmaßnahmen war gar nicht zu denken.“ Nach sechs Monaten war er weg. Transaktionskosten: 100.000 Euro, um einen Ersatz für Kasten zu suchen.
Neue Zeiten brauchen auch eine neue Entscheidungskultur
Früher war es in Industriebetrieben mit ungelernten Tagelöhnern sicher sinnvoll, bei anstehenden Entscheidungen die Führungskräfte einzuschalten. Heute sind die meisten Menschen bestens ausgebildet und ihre Arbeit ist hochkomplex. Sie brauchen keine Vor- und Nacharbeiter, die ihnen sagen, was zu tun und zu lassen ist. Vorgezeichnete Wege hemmen die Fantasie und zerstören damit die Möglichkeit, eigene bessere Wege zum Ziel zu finden. Nicht die bestmögliche Performance, sondern das Befolgen von Regeln wird dann zum Ziel. Und eine Egal-Mentalität stellt sich ein.
Die Zentralisierung operativer Entscheidungen bremst nicht nur alles aus. Sie macht die Mitarbeitenden willenlos und züchtet Marionetten. Die vielen Regularien begünstigen eben nicht den Erfolg, ganz im Gegenteil: sie behindern ihn. Wer Kompetenzen einschränkt, verringert zudem den Anreiz, Großes zu wollen. Deshalb sollten Obere beiseitetreten, damit sich die Mitarbeitenden endlich in Freiräumen entfalten können. Mikrokontrolleure bekommen Leute, die antriebslos sind, die sich nichts trauen und am Ende auch nichts mehr können.
Die Entscheidungsmatrix: Definieren Sie Typ 1 und Typ 2
Hochstrategisches gehört natürlich in den obersten Stock. Dies liegt außerhalb des Wissens der operativen Teams. Wenn es hingegen um operative Maßnahmen geht, entscheidet besser nicht der/die Vorgesetzte, sondern der Mitarbeitende oder das Team, in dem ein jeweiliger Vorstoß wirksam wird. Insofern gilt es zunächst, zwischen Strategischem und Operativem zu unterscheiden. Ich nenne dies Typ 1 und Typ 2:
>> Typ-1-Entscheidungen: Das sind strategische Entscheidungen. Diese haben meist einen langfristigen Zeithorizont mit weitreichenden Konsequenzen, wie etwa Fusionen, internationale Expansionsvorhaben, ein Firmenumzug, Investitionen in neue Produktionshallen und so fort. Dabei geht es um die großen Zusammenhänge im Marktgeschehen, um langfristige Perspektiven, um juristische Haftungsgründe, um Finanzrestriktionen usw., die für die Unternehmenssteuerung maßgeblich sind. Solche Entscheidungen gehören in den obersten Führungskreis, weil sie im Fall von Fehlern existenzbedrohliche Folgen haben können.
>> Typ-2-Entscheidungen: Das sind Entscheidungen von operativer Bedeutung. Sie werden eigenverantwortlich dort getroffen, wo sie tatsächlich hingehören: Dort, wo die Fachleute sitzen, dort, wo man ganz nah am Kunden ist, und dort, wo man beim kleinsten Hinweis auf Fehler nachsteuern kann. „Kompetenzen und Verantwortung zusammenführen“ nennt man dieses Prinzip. In operativen Belangen kann ein Mitarbeiterteam, sofern es erstens das Können und zweitens den Zugang zu allem benötigten Wissen hat, meist die effektiveren Lösungen finden.
Der Weg zu einer dezentralen Entscheidungskultur
Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer dezentralen Entscheidungskultur kann darin bestehen, eine Entscheidungsübersicht für seinen Bereich zu erstellen. Dazu wird zunächst auf einem Board zusammengetragen, welche Entscheidungen von strategischer und welche von operativer Bedeutung sind. Danach wird festgelegt, wer bei Entscheidungen von Typ 1 involviert ist und diese genehmigt. Entscheidungen von Typ 2 werden autonom im Team oder von einer Einzelperson getroffen. Allenfalls gibt es eine Informationspflicht „nach oben“ und/oder ein Vetorecht der Führenden.
Anschließend wird die Liste intern veröffentlicht. Das schafft Klarheit, Sicherheit und Transparenz. In einer festgelegten Experimentierphase, die mehrere Monate dauern kann, wird die Brauchbarkeit des Ganzen getestet. Änderungen und Ergänzungen sind nach gemeinsamer Absprache jederzeit möglich. Die Informationspflicht und vor allem das Vetorecht sollten nur äußerst selten angewandt werden, um den Weg in das eigenverantwortliche, selbstorganisierte, agile Arbeiten tatsächlich zu ebnen. Dabei müssen die Führenden akzeptieren, dass nicht ihre eigene Meinung das Maß aller Dinge ist, sondern dass es auch andere, geeignetere Wege zum Ziel geben kann.
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