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Fachkräftemangel? Werden denn überhaupt die Richtigen gesucht?

Juliane ist desillusioniert. Jahrelang hat sie studiert, sich extracurricular engagiert und vielseitige Praktika absolviert, um beste Voraussetzungen für ihre Traumfirma mitzubringen. Sie ist zukunftsorientiert und ambitioniert. Im Bewerbungsgespräch wurde ihr alles Mögliche versprochen: Aufgaben mit Sinn, Spielraum, um sich einzubringen, Veränderungsinitiativen, die man sich von ihr als hochtalentierte Fachkraft erhoffte. In Wirklichkeit hat sie wie ein Roboter Aufgaben abzuarbeiten.

Eine ehrliche Stellenausschreibung, erzählt sie in Alex Steffens Buch „Der Pionier in dir“, müsste bei manchen Firmen so aussehen: „Wir erwarten ein hohes Maß an Durchhaltevermögen bei sinnfreien und trägen Verfahrensweisen. Du bist bei uns richtig, wenn du ein ausgeprägtes Verständnis für niedrige Kommunikationsstandards mitbringst. Deine Studien- und Arbeitserfahrung zählt ab deinem ersten Arbeitstag nichts mehr. Stattdessen wünschen wir uns absolute Hörigkeit.“

Weshalb es in vielen Firmen keine Pioniermentalität gibt

Hochqualifizierte Talente müssen nicht beaufsichtigt werden wie kleine Kinder. Sie wollen sich nicht gängeln oder in ein Schema pressen lassen. Das bremst sie nur aus. Vielmehr brauchen sie freie Bahn, damit sie ihren Arbeitgeber durch den Wandel lotsen. Wer seine Beschäftigten für konformes Verhalten einstellt, führt und belohnt, bekommt niemanden, der eigene Bilder entwirft. Der hat vielmehr nur noch Leute, die nach Vorlagen malen können. Kreativität und Eigenständigkeit schwinden, so wie ein Muskel verkümmert, weil man ihn nie benutzt.

In solchen Firmen ist es nur logisch, dass es keine Pioniermentalität gibt. Die dürfen sich dann aber nicht wundern, wenn sie in ein paar Jahren nicht mehr existieren. Wo Freigeister nicht aktiv werden dürfen, verstärken sich die Beharrungstendenzen. Dort hingegen, wo sie repressalienfrei wirken können, löst sich das gesamte Unternehmen von überkommenen Vorgehensweisen und richtet den Blick nach vorn. Um in Zukunft tonangebend zu sein, muss es den Unternehmen also gelingen, sich für Vorreiter des Wandels und Übermorgengestalter attraktiv zu machen.

Freigeister oder Konformisten: Wer ist bei Ihnen erwünscht?

Die zunehmende Vernetzung ganzer Systeme und die hohe Dynamik der Märkte erfordern insbesondere Menschen, die zugleich als Fachexperte und Generalist agieren, die wandelbar und in der Lage sind, multiperspektivisch zu denken und zu handeln. Vor allem sollte man nach Talenten Ausschau halten, die sich als Nonkonformisten, als Bahnbrecher und ambitionierte First Mover ins Neuland wagen. Nur so wird ein Unternehmen im künftigen Wirtschaftsgeschehen eine maßgebliche Rolle spielen.

Nur leider: Genau die, die man von jetzt an dringender braucht als jemals zuvor, die passen nicht in die detaillierten Stellenbeschreibungen mit ihren festgezurrten Anforderungskatalogen, die von den Fachabteilungen kommen. Wo man nach Schablonenmenschen sucht, da werden die so wichtigen Freigeister, Andersdenker, und Zukunftsmacher bereits im Recruitingprozess aussortiert. Wie schade! Fortan sollte nicht der (vermeintlich) Bestqualifizierte, sondern der Veränderungswilligste eine Chance erhalten. Und nicht die Anfangsausbildung sollte entscheidend sein, sondern vielmehr, wie schnell jemand Neues erlernen kann und will.

Im Recruiting: Meist wird nach Vorgabenerfüllern gesucht

Würden die Unternehmen nicht nach Vorgabenerfüllern suchen, sondern sich mehr für Change Maker öffnen, gelänge ihnen der Sprung in die Zukunft unglaublich leicht. Doch vielfach sind Veränderer gar nicht erwünscht, weil sie mangelnden Konformismus zeigen. Konformismus erscheint auf den ersten Blick ja überaus praktisch, doch in Wahrheit ist er äußerst gefährlich. Das Kritikvermögen erstirbt, Uniformität, Trägheit und Innovationsfeindlichkeit stellen sich ein. Das Ergebnis aus Sicht des Marktes: Mittelmaß und Beliebigkeit. Das ist meist der Anfang vom Ende.

Wer viele Jahre lang auf ähnliche Weise mit ähnlich gesinnten Kollegen gearbeitet hat oder immer nur in der gleichen Branche tätig war, der kann sich kaum vorstellen, dass etwas ganz anders gehen könnte als üblich. „So macht man das bei uns und in unserer Branche“, hat sich derart fest in ihrem Kopf eingebrannt, dass unorthodoxe Einfälle einfach nicht auftauchen wollen. Zudem stecken klassische Fachkräfte oft in der Kompetenzfalle fest: Sie behalten das Verhalten, das in der Vergangenheit Erfolge brachte, weiterhin bei, um bei neuen Arbeitsweisen nicht schlechter abzuschneiden.

Bitte etwas mehr Mut: Mit Klonen kommt man nicht weit

Das Recruiting stellt die Weichen für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Also folgende Frage: Wie viel „neu und anders“ kann und will eure Organisation denn wirklich verkraften? Oftmals wird ja vor allem nach solchen Bewerber:innen Ausschau gehalten, „die gut zu uns passen“. Klar braucht es „Cultural Fit“. Doch damit meint man in Wahrheit zumeist Personen, die vorhersehbar „funktionieren“ und keine Probleme machen.

Zwar gibt der Text einer Stellenanzeige gern vor, man suche explizit nach Kandidaten mit frischem Denken und neuem Handeln. Aber dann: Die Biografie braucht Geradlinigkeit. Aus Arbeitszeugnissen liest man heraus, wie sich jemand einfügen kann. Branchenerfahrung ist meistens ein Muss. Und überhaupt: So quer, so schräg, so unkonventionell, das dann bitte doch lieber nicht. Es könnte die betriebliche Ordnung stören. Da bleiben die Türen für Nonkonformisten vorsichtshalber verbarrikadiert.

Allerdings haben unternehmerische Monokulturen im digitalen Sturm –  wie die Monokulturen in unseren Wäldern bei einem Orkan – nicht den Hauch einer Chance. Nehmen wir eine weitere Anleihe bei Mutter Natur: Sie produziert nicht das immer wieder Gleiche durch Klonung, sondern Neues durch Paarung. Die Durchmischung von eigenem mit fremdem Erbmaterial führt nämlich dazu, dass robustere Nachkommen entstehen. Genetische Vielfalt ermöglicht es einer Spezies, sich besser an wandelnde Umstände anzupassen.

Vorwärtsdenker mit einem innovationsoffenen Mindset finden

Nicht die, die in vorgestanzte Schablonen passen, sondern die, die den Unterschied machen, die Neues ersinnen und „das nächste große Ding“ liefern können, die Vorwärtsdenker mit einem innovationsoffenen Mindset, die muss das Recruiting finden. Sucht also nicht nur nach Leuten, die bloß die Position ausfüllen können, die akut besetzt werden soll. Sucht nach vorausschauenden Generalisten mit heterogenen Praxiserfahrungen, die im Zusammenwirken mit Experten den entscheidenden Unterschied machen. Sie beugen der Betriebsblindheit vor. Sie sorgen für eine Frischzellenkur, für Blutauffrischung und Überkreuzbefruchtung.

Doch siehe da: Standardisierte Bewerbungsverläufe sind noch immer die Norm. Verhält sich ein Kandidat wie erwartet, winkt man ihn durch. Verhält er sich anders als üblich? Schon gehen die Alarmglocken los. „Was ist denn Ihre größte Stärke“, wird er gefragt. „Ich bin bekannt für innovative Vorgehensweisen“, ist die Antwort. Super, denkt sich der Personaler, genau so jemanden bräuchten wir hier. Und der Fachvorgesetzte? „Der bringt mir nur Unruhe in den Laden. Nichts da. Weg mit ihm.“

So favorisieren die aktuellen Mitarbeiterauswahlprozesse meist den Status quo – und nicht das Andersdenken, den Fortschritt und die Varianz. „Systemerhalter können nicht zu den Vormündern der Vordenker gemacht werden. Das kann man nicht oft genug wiederholen, denn das ist die Ursache der deutschen Innovationsallergie“, schreibt der Publizist und Brand-eins-Mitgründer Wolf Lotter in seiner Streitschrift „Innovation“. Im schlimmsten Fall macht das unser ganzes Land, einst Weltmarktführer in nahezu allem, zu einer verlängerten Werkbank für Tech-Nationen.

 

(Dies ist ein Auszug aus meinem neuen Buch „Bahn frei für Übermorgengestalter“. Es zeigt 25 rasch umsetzbare Initiativen und weit über 100 Aktionsbeispiele, um zu einem Überflieger der Wirtschaft zu werden. Kompakt und sehr unterhaltsam veranschaulicht es jedem, der helfen will, eine bessere Zukunft zu gestalten, die maßgeblichen Vorgehensweisen in drei Bereichen: Wie machen wir die Menschen stärker, das Zusammenarbeiten besser und die Innovationskraft im Unternehmen größer.)

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