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30 Jahre organisationale Transformation: über Vorreiter und Nachzügler

Gut 30 Jahre ist das jetzt her. Im Herbst 1993 erschien Ricardo Semlers Buch Maverick: The Success Story Behind the World’s Most Unusual Workplace. Semler war einer der wenigen seiner Zeit, die die üblichen topdown-getriebenen Organisationsmodelle infragestellten. Lange vor der Jahrtausendwende hat er im brasilianischen Mischkonzern Semco alphahierarchische Machtstrukturen abgeschafft und eine maximale Unternehmensdemokratisierung eingeführt. Nur ganz vereinzelt taten andere klassische Unternehmen es ihm da bereits nach.

Zu Treibern neuer Arbeitsweisen in einem hierarchiearmen Umfeld wurden vor allem die wegweisenden jungen Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley. Nur durch Hierarchierückbau, Selbstorganisation und agiles Handeln, so erkannten sie, war es möglich, mit der sich bereits in den 1990er Jahren abzeichnenden Rasanz technologischer Entwicklungen Schritt halten zu können. Ihre erfolgsentscheidende Frage war diese:

Was ist die minimal notwendige Machthierarchie, die minimal notwendige Ordnungsstruktur und die maximal mögliche Form der Selbstorganisation?

Wegweisend für agile Arbeitsformen: das Cluetrain Manifest

Im April 1999 stellten vier Visionäre in ihrem Cluetrain Manifest 95 Thesen für eine neue Unternehmenskultur im digitalen Zeitalter ins Web. So sagt etwa These 1: „Märkte sind Gespräche.“ Und These 12: „Es gibt keine Geheimnisse. Der vernetzte Markt weiß mehr als die Unternehmen über ihre eigenen Produkte. Und egal, ob die Nachricht gut oder schlecht ist, wie erzählen es jedem.“ Und These 95: „Wir wachen auf und verbinden uns miteinander. Wir beobachten. Aber wir werden nicht warten.“

Das darauf folgende Agile Manifest machte agile Formen der Arbeit zunehmend populär, allen voran Scrum, eine Methode, die das starre, wasserfallartige Vorgehen im Projektmanagement und bei der Softwareentwicklung durch ein komplett neues Methodenset ersetzte. Der Begriff Scrum stammt aus dem Rugby und bezeichnet eine kreisförmige Aufstellung der Mannschaften. Hieraus entwickelten sich die ersten kreisförmigen Organisationsmodelle, unter anderem das Spotify Tribe Model.

Erfolgsbeispiele für neue Organisationsmodelle gibt es zuhauf

Für Furore sorgte Reinventing Organisations, der 2014 erschienene Weltbestseller des belgischen Managementvordenkers Frédéric Laloux. In seinem Buch finden wir eine ganze Reihe von Beispielen für gelungene Selbstorganisation, allen voran das des niederländischen Pflegedienstes Buurtzorg. Viele Autoren folgten mit eigenen Büchern, um neue Organisationsformen vorzustellen und von Unternehmen zu berichten, die damit erfolgreich waren. Ich selbst habe zusammen mit Alex T. Steffen 2019 das Orbit-Modell entwickelt und in Die Orbit Organisation ausführlich beschrieben.

Besonders hervorheben möchte ich zudem das Buch und die Website Corporate Rebels der Niederländer Joost Minnaar und Pim de Morree. Beide wurden vom Thinkers50 Institute zu den „Top 30 Emerging Management Thinkers” gekürt. Wie es dazu kam? Sie kündigten ihre frustrierenden Jobs und bereisen seit Jahren die ganze Welt, um nach Organisationsrebellen zu suchen und davon in ihrem Blog zu erzählen. Hunderte aus den unterschiedlichsten Branchen haben sie bereits gefunden.

Und weshalb bewegt sich in klassischen Unternehmen so wenig?

Inspirationsquellen für neue Vorgehensweisen gibt es also seit Jahren in Hülle und Fülle. Die Frage ist demnach die: Weshalb bewegt sich in klassischen Unternehmen so wenig? Natürlich höre ich die, die mir erklären, heute sei vieles längst anders. Man führe jetzt transformational und nutze agile Methoden. Das ist sehr zu begrüßen. Doch schaut man genauer hin, passiert das meiste nur punktuell. Zudem beschränkt sich das Vorgehen auf die Mitarbeiterseite, die Arbeitsplatzgestaltung und neue Arbeitstools. Das Wesentliche aber, die organisationalen Machtstrukturen, bleiben unangetastet.

So heißt es seit Jahren, dass Silo-Formationen aus der Zeit gefallen sind und nicht mehr funktionieren. Doch (fast) niemand reißt die eigenen Silos konsequent ein. Man dreht zwar an kleinen Schräubchen, nicht aber am großen Rad. Man doktert an Symptomen herum, statt sich mit dem Gesamtsystem zu befassen. Um die eigene Haut zu retten, schützt das etablierte Management ein überholtes System und versucht so, eine Zukunft aufzuhalten, die sich nicht aufhalten lässt. So rutschen wir, als Wirtschaftsnation einst fast überall auf dem Podest, inzwischen immer weiter auf die hintersten Plätze.

Sich selbst transformieren? Oder nur Transformationstheater?

Die erste Erkenntnis der Silo-Vorsteher müsste demnach folgende sein: Die wahren Verhinderer, das sind wir selbst. Leider ist mit solcher Größe nur selten zu rechnen. So inszenieren sich viele Manager zwar als veränderungsfreudig. Ständig legen sie dar, wie wichtig Transformation sei, weshalb man ihnen mangelnden Wandlungswillen irgendwie gar nicht anlasten kann. Doch ihr eigenes Vorgehen transformieren sie nicht. Topdown-Gehabe, penible Vorgaben, engmaschige Kontrollen, umständliche Genehmigungsschleifen sowie die ganze Selbstbeschäftigungsbürokratie klassischer Organisationen: alles immer noch Usus.

Oder nehmen wir Change-Projekte. Wie eh und je werden sie weit oben im Unternehmen systematisch durchgeplant und dann wasserfallartig nach unten „ausgerollt“. Die Mitarbeitenden werden quasi vor vollendete Tatsachen gestellt. Längst ist alles beschlossene Sache, nun gilt es, ihnen das zu „verkaufen“. Kein Wunder, dass solcher Change oft misslingt. Jenseits aufgehübschter PR-Storys für die Fachmagazine liegt die Scheiterquote klassischer Change-Projekte bei bis zu 80 Prozent, wie Studien seit Jahren zeigen. Das kostet nicht nur Zeit und Geld, sondern neben Frust und Change-Müdigkeit auch eine Menge Vertrauen.

Change-Prozesse von anno dazumal können nur scheitern

Da ist zum Beispiel der auf den Soziologen Kurt Lewin zurückgehende Dreiphasenprozess von „unfreeze, move, refreeze“ (auftauen, bewegen, wieder einfrieren) aus dem Jahr 1947 (!). Auftauen dauert! Und eingefrorene Zustände sind in bewegten Zeiten fatal. „Warum macht ihr das so?“ frage ich. „Weil es alle so machen.“ Oder: „Das haben wir immer so gemacht.“ Oder: „Das haben wir an der Uni so gelernt.“ Leute! Vor uns liegen Hochgeschwindigkeitswildwasserzeiten, die alles bislang Gesehene in den Schatten stellen. Präzisionsplanung ist zwecklos. Permanente Selbsterneuerung und kontinuierliches Experimentieren werden von nun an gebraucht.

Populär ist auch die siebenstufige Change-Kurve von Elisabeth Kübler-Ross aus dem Jahr 1969 (!). Sie beschreibt das emotionale Erleben von Menschen in finalen Veränderungsprozessen, beruhend auf Interviews mit Sterbenden und Trauernden. Es führt über Schock und Leugnung ins Tal der Tränen bis zur schließlichen Akzeptanz. Also bitte! Wieso muss man Mitarbeiter durch ein „Tal der Tränen“ schicken? Ungute Gefühle erzeugen Vermeidungsstrategien. Man wird sich gegen das nächste Change-Projekt wehren. Oder man wird es verteufeln. Oder man sitzt es aus. Stattdessen kann Veränderung im Sinne von dienlicher Weiterentwicklung etwas sehr Freudvolles sein.

Wie Wandel wirklich gelingt? Transformieren Sie Change!

Verändern Sie Change-Prozesse nicht nur ein bisschen, stellen Sie den Prozess als solchen infrage. Transformieren Sie Change! Ist doch bekannt: Ablehnung und Unlust entstehen automatisch immer dann, wenn etwas von oben verordnet wird, also mit Druck oder Zwang behaftet ist. Zustimmung hingegen entsteht, wenn man über eine Veränderung selbst entscheidet. Freiwilligkeit ist die wichtigste Zutat für Antrieb und gelingenden Wandel. Wenn die Mitarbeitenden von Anfang an in den Veränderungsprozess eingebunden werden, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass Change gelingt. Wenn man zudem gewohnt ist, sich ständig anzupassen, ist es viel leichter, sich auch mal im Großen zu restrukturieren, wenn die Umstände dies fordern.

Wer größere Change-Maßnahmen plant, darf die Leute also nicht abkommandieren. Es ist ein Fehler, seine Energie an die zu verschwenden, die den Wandel (zunächst) nicht wollen. Indem man ihnen viel zu lange viel zu viel Aufmerksamkeit widmet, stärkt man ihre Position und gibt ihnen Zeit, Zwietracht zu säen. Die Menschen haben ganz einfach verschiedene Geschwindigkeiten, wenn es um Wandel geht. Manche haben ein hohes Strukturierungsbedürfnis, andere eine niedrige Risikotoleranz. Das müssen wir respektieren. Wir dürfen weder die einen unter- noch die anderen überfordern.

Das Veränderungstempo der Menschen ist sehr verschieden

Eine Faustregel besagt: Sind zehn Prozent einer Gruppe für eine Sache gewonnen, entsteht Sog. Egal also, ob es sich um eine Nachhaltigkeits-, Transformations- oder Innovationsmaßnahme handelt: Lassen wir erst mal die Vorreiter ran. Jedes Change-Projekt ist zugleich ein Pionierprojekt, und das ist nicht jedermanns Sache. Der Homo Sapiens ist vor allem ein Fluchttier. Somit sind wir eine Spezies, die sich leicht fürchtet. Aus freien Stücken sind immer nur einige wenige nach vorne gestürmt. Eine Gruppe als Ganzes ist sicherer, wenn zunächst nur eine solche „Vorhut der Willigen“ Neuland betritt, um dort nach Chancen zu suchen. Erst dann, wenn diese heil zurückgekehrt ist, folgen andere nach, damit sich das Alte mit dem Neuen verbindet. Also:

  • Die Vorreiter stürzen sich mutig ins Neuland.
  • Die frühe Mehrheit benutzt Trittsteine dorthin.
  • Die späte Mehrheit wartet auf eine feste Brücke.
  • Die Nachzügler folgen erst ganz zum Schluss.
  • Einzelne kommen nicht mit oder bleiben zurück.

Dies entspricht der Diffusionstheorie des Kommunikationswissenschaftlers Everett Rogers, die besagt, dass Neuerungen je nach Persönlichkeitstyp zeitlich verzögert übernommen werden. Ein Change-Prozess in Anlehnung an seine Innovation Curve ist in heutigen Zeiten wesentlich besser geeignet.

Wir brauchen 10 % Vorläufer, die Veränderung initiieren

Es sind die Vorläufer und Pioniere, die Experimentierfreudigen mit Schöpfergeist, Tatkraft und Durchhaltevermögen, die eine Veränderung initiieren. Ihr Mut macht auch anderen Mut. Sie verbreiten Zuversicht und machen Lust auf Wandel. Von den Ersterfolgen inspiriert, interessieren sich mehr und mehr Kollegen für das Neue. Das ist die Gruppe der frühen Mehrheit. Wurden genügend Menschen aus der frühen Mehrheit gewonnen und ist das Terrain nun sicher, wird die späte Mehrheit den Vorauseilenden folgen. Es bringt wenig, die Bewahrer des Bestehenden von Anfang an mitnehmen zu wollen und unnütze Energie in Überzeugungsversuche zu investieren. Man beruhigt sie, indem sie zunächst an den Veränderungen noch nicht teilnehmen müssen.

Bei den Nachzüglern sitzen die Bedenkenträger. Diese wird man erst dann überzeugen, wenn alle Gefahren beseitigt sind. Dabei ist zu differenzieren: Gesunde Skepsis und konstruktive Kritik sind durchaus nützlich, weil sie uns dazu bringen, gründlicher nachzudenken und bessere Vorgehensweisen zu entwickeln. Hüten müssen wir uns vor den Boykottierern, die stets auf der Bremse stehen und aus Eigeninteresse für die Konservierung der Vergangenheit kämpfen. Die müssen gehen. Kategorische Zukunftsverweigerer kann sich kein Unternehmen noch länger leisten.

Veränderungsprozess in Anlehnung an die Innovation Curve von Everett Rogers

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