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Fehlerlernkultur: Damit Neues gelingt, muss man auch straucheln

Vor ein paar Jahren hatte ich in der Hamburger Google-Zentrale zu tun. Gerade war die Google Glass herausgekommen, ein Minicomputer, den man wie eine Brille trägt. Die wollte ich natürlich gleich ausprobieren. Man konnte auf ein Touchpad am Gestänge tippen oder Sprachbefehle eingeben und bekam die gewünschten Informationen auf ein Prisma vor dem rechten Auge eingespielt – auch solche vom Gegenüber.

Die Gegenüber fanden das gruselig. „Glassholes“ wurden die Träger genannt. Die Brille floppte. Zunächst. Zwei Jahre nach dem vorübergehenden Ende verkündete Google mehrere Großprojekte mit namhaften Konzernen. Seitdem wird die Google Glass mit großem Erfolg im B2B-Geschäft eingesetzt, zum Beispiel in Werkshallen und in der Logistik.

Man muss üben, um zu brillieren. Wirklich Neues gelingt nur dem, der den Mut hat, zwischendurch auch zu straucheln. Fehler sind der Preis für Evolution und Innovation. Der Experimentiermodus ist fortan ständig auf „on“. Eine fehleroffene, sanktionsfreie Lernkultur ist hierfür ein Muss. Wenn das Umfeld komplex und die Zukunft unvorhersehbar ist, werden Fehlversuche zur Normalität.

Erfolgreiche Firmen experimentieren, iterieren, pivotieren

Jeder kann durch Fehler klüger und besser werden. So ist jeder Fehlversuch zugleich ein Erkenntnisgewinn. Erfolgreiche Unternehmen

>> experimentieren. Sie probieren vieles aus, um zu sehen, was für den Markt das Richtige ist. Sie testen „jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag“ (Jeff Bezos), um mit den stets steigenden Kundenerwartungen Schritt zu halten. „Experimentability“ sei die wichtigste Management-Ressource in einer digitalen Welt, sagt der Verhaltensökonom Ernst Fehr, Professor an der Universität Zürich. Geplante Vorgehensweisen werden dabei sofort über Bord geworfen, wenn sie sich im Zuge von Testphasen als untauglich erweisen.

>> iterieren. Über permanente Lernschleifen wird mithilfe von Kundenmeinungen fortlaufend optimiert, um frühzeitig auszusondern, was niemand braucht. So kommt validiert nur das auf den Markt, wofür die Menschen tatsächlich Geld ausgeben wollen. Das ständige Feedback über testen – lernen – verbessern – testen macht sofortige Kurskorrekturen möglich. Ein wertvolles Extra: Man ist regelmäßig in Kontakt mit seinen Kunden und sorgt für den „Mein-Baby-Effekt“.

>> pivotieren. Beim Pivotieren wird mindestens ein erfolgversprechender Aspekt des ursprünglichen Geschäftsmodells gezielt in eine neue Richtung gelenkt. So erging es zum Beispiel dem Instagram-Vorläufer Burbn, eine App, die ursprünglich konzipiert worden war, um Whiskey-Freunde zusammenzubringen. Als man erkannte, dass die User hauptsächlich die Fotoposting-Funktion nutzten, richtete sich das Startup neu aus und legte damit den Grundstein für die Erfolgsstory von Instagram.

Aus Fehlern lernen ist in komplexen Zeiten ein Muss

In Old-School Unternehmen finden wir oft eine angstvolle Fehlerkultur. Hingegen haben junge Unternehmen längst verstanden: Nur da, wo nichts passiert, passieren garantiert keine Fehler. Und die Angst selbst vor kleinsten Fehlern verhindert den großen Erfolg. Deshalb probiert man dort alles Mögliche aus und kalkuliert das Scheitern mit ein. „Start many, try cheap, fail early”, heißt das Prinzip: Viele Projekte starten, sie mit kleinen Mitteln testen, Flops schnell erkennen und sofort eliminieren. Für den Fall, dass man scheitert, scheitert man früh. Kosten halten sich so in Grenzen.

In der Digitalwelt ist eine fehlertolerante Lernkultur demnach völlig normal. Manche New-School-Unternehmen bieten ihren Mitarbeiter:innen für Fehlstarts sogar eine Bühne: „Stelle ein Projekt vor, das so richtig gegen die Wand gefahren ist“, lautet die Aufforderung dort. Der dahinterliegende Sinn: Alle sollen daraus lernen. Nicht der Fehler, sondern die Lernerfahrung wird dort gefeiert. Denn eine negative Haltung gegenüber Fehlern erstickt jeden Hauch von Wagemut schon im Keim. Über einen Mangel an Innovationen darf man sich dann natürlich nicht wundern.

Aus Fehlern lernen: In gescheitert steckt gescheiter

Vielerorts ist Scheitern inakzeptabel. In der digitalen Szene hingegen fühlt man sich inspiriert von den Geschichten bekannter Unternehmer, die vor ihrem Durchbruch gescheitert sind. So erging es auch Max Levchin, ein Serien-Entrepreneur mit ukrainischen Wurzeln. Die erste Firma, die er gründete, scheiterte mit einem großen Knall. Die beiden nächsten Firmen scheiterten auch, nur nicht ganz so dramatisch. Die vierte wäre beinahe nicht gescheitert. Die fünfte war PayPal, ein grandioser Erfolg. Mancherorts werden bereits Bewerber bevorzugt, die schon gescheitert sind. Dort weiß man um den Wert dieser Erfahrung. In gescheitert steckt nämlich gescheiter.

Woher kommt also diese Angst vor Fehlern? In der alten Industriekultur konnte jeder Produktionsfehler den Ruin bedeuten, weil klassische Herstellungsprozesse teuer waren. Heute gilt es zu differenzieren. Was folgenschwere Nachwirkungen haben kann, verlangt zwangsläufig eine Null-Fehler-Toleranz. Und natürlich will jeder Kunde eine fehlerfreie Leistung. Hingegen ist Fehlerakzeptanz in der vorgelagerten Entwicklungs- und anschließenden Optimierungsphase elementar. Dafür gibt es zum Beispiel das Testlabor und den Flugsimulator. Digitale Produkte kommen als Beta-Version auf den Markt und werden mithilfe der User verbessert und weiterentwickelt.

Komplexe Probleme brauchen Spielraum und freie Bahn

Einem Anfänger dürfen natürlich mehr Fehler passieren als einem Profi. Niemand ist gleich vom Start weg perfekt. Stolpern gehört zum Laufen lernen dazu. Schließlich stellt sich die Frage: Ist das dem Fehler zugrundeliegende Problem kompliziert oder komplex? Bei komplizierten Problemen lassen sich Prozesse über feste Routinen in Richtung Fehlerlosigkeit bringen. Bei komplexen Problemen ist genau das nicht möglich. Sie verlangen zwar Rahmenbedingungen, aber auch Spielraum und freie Bahn.

Wie wäre es mit folgendem Punkt auf der Meeting-Agenda: „Welche Erfahrungen ich gemacht habe, die sich alle sparen können.“ Jeder Mitarbeitende weiß damit sogleich: Das wird uns hier nie wieder passieren. So kann jede erzählte Geschichte dabei helfen, genau die Fehler zu vermeiden, die andere schon hinter sich haben. Wenn man Fehler hingegen vertuscht, dann machen andere möglicherweise bald den gleichen Fehler – und das Ganze wiederholt sich unzählige Mal. Und wenn man Fehler verschleppt, macht man aus einem Mini- ein Maxiproblem. So entstehen am Ende dann Großbaustellen.

Die fehlertolerante Lernkultur: Es gibt drei Fehlertypen

Auf dem Weg zu einer fehlertoleranten Lernkultur gilt es zunächst, die Fehlerkategorien einmal grundsätzlich zu analysieren. Davon gibt es drei:

>> Fehlertyp 1: Das sind Fehler, die zu einer Katastrophe führen können. Weil es zum Beispiel um die Sicherheit von Menschen, um Finanzzahlen, Juristisches, die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften oder das perfekte Funktionieren eines Produktes geht. Solche Fehler gehören zum Beispiel zur Normwelt von Industrieunternehmen mit großen Stückzahlen, Massenproduktion und Gleichförmigkeit. Bei diesem Fehlertyp sind feste Prozesse, vordefinierte Abläufe und penible Kontrollmechanismen unverzichtbar.

>> Fehlertyp 2: Das sind Fehler, die beim Erschaffen von Neuem entstehen, etwa Produkte, Services und Lösungen rund um Kundenbedürfnisse und die moderne Arbeitswelt. Hier gilt es, Fehlentwicklungen früh zu identifizieren, viel zu testen und anhaltend zu experimentieren in dem Wissen: Innovationen sind ergebnisoffen, sie beinhalten das Scheitern, erfordern kleine erste Schritte, verlangen Mut, Frustrationstoleranz, Anpassungsvermögen und psychologische Sicherheit. Nicht die Fehler im Entstehungsprozess sind hier die größte Gefahr. Die größte Gefahr ist die, dass ein Anbieter irrelevant wird, weil die Mitarbeitenden sich nichts trauen.

>> Fehlertyp 3: Das sind Fehler, die nicht toleriert werden können, wie Absicht, Nachlässigkeit und Schlamperei. Sie erfordern angemessene Konsequenzen – auch als Botschaft an alle, die dabei zuschauen, wie man mit dieser Art Fehler umgeht.

Wo keine Fehler zugelassen werden, geht viel Zeit damit drauf, sich abzusichern. Statt nach Lösungen zu suchen, werden „Sündenböcke“ gejagt. Dieser Ausdruck geht übrigens auf das Alte Testament zurück. Bei den Feierlichkeiten zum Versöhnungsfest wurde ein Ziegenbock symbolisch mit allen Sünden des Volkes beladen und in die Wüste getrieben. So befreiten sich die Menschen von Schuld.

(Das Buch zum Thema, Managementbuch des Jahres: Das Touchpoint-Unternehmen – Mitarbeiterführung in unserer neuen Businesswelt)

 

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