Ist man erst mal Kunde, dann ist man „zweite Klasse“. Regelmäßig sehen Stammkunden fassungslos zu, wie Neukunden die ganzen Goodies erhalten, damit sie sich für einen Erstkauf entscheiden. In vielen Branchen ist Bestandskundenabzocke geradezu gang und gäbe.
Doch eine „Wir hoffen, die merken das nicht“-Strategie funktioniert schon lange nicht mehr. Niemand lässt sich mehr für dumm verkaufen. „Was ist drin, wenn ich kündige, und wie hole ich am meisten dabei raus?“ Das ist heutzutage eine gängige Frage an die Web-Community.
Denn wir alle haben gelernt: Erst, wenn wir den Quengelfaktor erhöhen, gibt’s Gutes. Ergo: Die Anbieter selbst haben uns Kunden zur Untreue erzogen. Und sie haben uns zu Schnäppchen-Nomaden gemacht.
Die Zweiklassengesellschaft im Vertrieb
Zweiklassengesellschaft herrscht nicht nur auf Kundenseite zwischen Erst- und Wiederkäufer, sondern auch im Vertrieb. Die Kundenjäger (= Hunter) sind die Helden vom Dienst. Sie werden hofiert, bestens trainiert und fürstlich entlohnt. (Die allerbesten dürfen sogar bis nach Budapest.)
Die Kundenbetreuer (= Farmer) hingegen agieren, nicht selten vom Außendienst herumkommandiert, vom Backoffice (= Hinterzimmer!) aus. Dies mit dem Ziel, aus Bestandskunden nun Cashcows (Melkkühe!) zu machen. Ja, so werden selbst Stammkunden in vielen Firmen noch immer genannt – und so werden sie dann auch behandelt.
Und es kommt noch schlimmer: Im Massengeschäft werden neue Kunden oft nicht mal mehr von eigenen Mitarbeitern betreut, sondern von solchen, die in externen Callcentern jobben. Informationsstand und Bezahlung sind dort meist niedrig, Frustration und Fluktuation aber hoch. Qualifizierte Antworten gibt es selten. Und die Lösungskompetenz ist gering.
Obendrauf kommen lange Warteschleifen und bisweilen maximal vier Minuten für ein Gespräch. Danach wird man aus der Leitung geworfen, weil der Auftraggeber für weitere Gesprächszeit nicht zahlt. Für Noch-nicht-Neukunden hingegen gibt es eine eigene Hotline, bei der sofort jemand ans Telefon geht. Und dort hat man alle Zeit der Welt für Konversationen.
Das Kundenziel: Loyalität + Empfehlungsbereitschaft
Ganze Manager-Generationen haben an den Unis über das Abschöpfen von Zahlungsbereitschaften gehört und glauben tatsächlich, dass das auch heute noch funktioniert. Ja, früher hat man sowas murrend ertragen. Doch heute wehren sich Bestandskunden heftig. Und sie haben gleich zwei Waffen parat:
- ihre Loyalität und
- ihre Empfehlungsbereitschaft.
Empfehlungsbereitschaft braucht nicht nur Spitzenleistungen, sondern auch Loyalität. Zunächst muss man sich also um die Loyalität seiner Kunden kümmern, muss Vertrauen aufbauen und für Begeisterung sorgen.
„Begeisternde Kundenerlebnisse sind der Schlüssel zu mehr Loyalität.“ Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Goldsmiths und Adobe-Studie „Reinventing Loyalty: The New Loyalty Experience“. Meine treue Leser wissen natürlich: Das propagiere ich schon seit ewigen Zeiten, zum Beispiel in Kunden auf der Flucht?, und jetzt, ganz neu, in Marketing-Automation für Bestandskunden.
Neben aller notwendigen Digitalisierung sind es immer auch bemerkenswerte, überraschende, verblüffende, faszinierende Details, die zur Begeisterung führen. Das sind die magischen “Micro-Moments of Truth”. Diese nenne ich „Sternenstaub“. Man kann gar nicht genug Aufmerksamkeit darauf lenken. Wer immer neu begeistert wird, der wird nicht nur regelmäßig bei „seinem“ Anbieter kaufen, er wird ihn auch wärmstens weiterempfehlen.
Wie gute Bestandskundenpflege entsteht
Damit Loyalität und Empfehlungsbereitschaft gelingen, müssen zunächst die Rahmenbedingungen stimmen. Zwei Schlüsselfragen sind dafür elementar:
• Was will das Unternehmen – und was nicht? Hieraus ergeben sich die Basisstandards und die „nicht verhandelbaren“ Guidelines, die als Leitplanken fungieren. Denn sowohl die Mitarbeiter als auch die Kunden brauchen absolute Klarheit darüber, was geht – und was aus Unternehmenssicht keinesfalls toleriert werden kann. Dies markiert die Null-Linie der Zufriedenheit.
• Was will der Kunde – und was nicht? Hieraus ergeben sich Möglichkeitsräume fürs Kundenbegeistern, die von den Mitarbeitern situativ ausgeschöpft werden können. Natürlich braucht es Spielregeln und Grenzlinien, doch das Spielfeld sollte ein möglichst großes sein. Dabei gilt: Erst der Kunde, dann die interne Effizienz. Denn erst oberhalb der Null-Linie, also dort, wo sich Flexibilität, Individualisierung und Improvisationstalent zeigen, setzt Kundenbegeisterung ein. Und erst diese ist ein Garant für Wiederkauf und Weiterempfehlung.
Insgesamt muss es das größte unternehmerische Bemühen sein, alles zu tun, um die angefallenen Akquisekosten auf eine möglichst lange Kundenbeziehungszeit zu verteilen. Je länger man einen rentablen Kunden hält, desto mehr Gewinn kann man durch ihn erzielen. Wer solche Schätze hat, der pflege sie eifrig, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen.
Kundenzufriedenheit? Nein, das reicht nicht!
Zwar reden die Unternehmen ständig von Kundenzufriedenheit. Doch „nur“ zufrieden sein ist nicht genug. Zufrieden bedeutet: befriedigend, belanglos, ersetzlich. Bei Mittelmaß entscheidet immer der Preis. Dann soll es wenigstens billig sein. So trösten wir uns, wenn überhaupt, mit Geldgeschenken über den Mangel an Exzellenz.
Zufriedenheit ist das Nichtvorhandensein eines schlechten Gefühls und damit als Zustand fragil. Insofern sind zufriedene Kunden gefährliche Kunden. Sie tadeln nicht, sie loben auch nicht. Doch beim kleinsten Fehler, beim erstbesten Sonderangebot, bei Auftauchen eines cooleren Anbieters oder dem Hauch einer feineren Leistung sind die nur Zufriedenen auf und davon.
Und aus Mitarbeitersicht? Im Befinden der Zufriedenheit zu beharren macht behäbig und bequem. Die emotionale Spannung ist niedrig, mangelnde Identifikation und Gleichgültigkeit stellen sich ein.
Unternehmen und Mitarbeiter, die nur auf die Zufriedenheit ihrer Kunden aus sind, setzen sich eher halbherzig für deren Interessen ein, zeigen wenig Initiative beim Erfüllen von Sonderwünschen und wenig Kreativität beim Lösen von Problemen. Diese Egal-Mentalität führt zu Desinteresse, zu Nachlässigkeiten und zu mangelnder Sorgfalt – und damit schließlich zum Kundenverlust.
Die Rahmenbedingungen für Kundenbegeisterung
Mehr als zufriedenstellende Bestandskundenpflege braucht Spitzenleistungen – und ein gutes Gefühl. Und dafür wiederum braucht es drei Komponenten: das Können, das Wollen und das Dürfen. Wo diese drei Komponenten zusammenkommen, entsteht die höchste Leistung.
Oft genug ist nicht das Können oder Wollen, sondern das Dürfen der wahre Knackpunkt. Denn ohne die Freiheit des Dürfens ersticken Wollen und Können im Keim. Doch eingezwängt in ein Vorschriftenkorsett dürfen selbst hochengagierte Mitarbeiter in vielen Unternehmen die Probleme ihrer Kunden nicht einmal dann unkompliziert lösen, wenn sie es wollten.
Von „Oben“ wird ihnen detailliert vordiktiert, wie sie vorzugehen haben, und was sie sagen sollen. Außerhalb der vorgedachten Prozesse agieren? Verboten! Man traut ihnen, den Praktikern, nicht zu, im Sinne der Kunden und des Unternehmens zu handeln.
So werden Entscheidungen von denen getroffen, die das noch weniger können: von Theoretikern im obersten Stock. Und genauso kommt das bei den Kunden auch an: reglementiert, uninspiriert, gequält, 08/15.
Wer sowas moniert, hört regelmäßig Sachen wie diese: „Ich bin hier nur die Servicekraft. Ich weiß, völliger Schwachsinn, das hat die oberste Heeresleitung so entschieden.“ Dann werden munter weitere Interna ausgeplaudert. Ist ja wohl klar: Niemand hält gern seinen Kopf für die Dummheiten anderer hin.