Für jeden, der mit Menschen zu tun hat, können Erklärungsansätze, die den kognitiven Verzerrungen zugrunde liegen, überaus wertvoll sein, weil sie beim Entscheiden, Umsetzen und Weiterentwickeln eine folgenschwere Rolle spielen.
Den meisten Menschen gefällt es ungemein, Bestätigung für ihre Denkmuster, Handlungsroutinen und Glaubenssätze zu bekommen. Ferner tendieren wir gerne dazu, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie den eigenen Erwartungen entsprechen und/oder diese bekräftigen. Manche beharren selbst dann auf ihrer Meinung, wenn neue Informationen diese längst widerlegen. Und bei alldem glauben wir überdies, im Recht und unbeeinflusst zu sein.
Die kognitiven Verzerrungen, die uns in diesem Kontext befallen können, sind zahlreich. An die 50 sind dokumentiert. Im Englischen spricht man dabei von einem „cognitive bias“. Dies ist ein kognitionspsychologischer Sammelbegriff für fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. Sie sind uns meist nicht bewusst – doch wir fallen leider vielfach auf sie herein. Eine kleine Sammlung:
1. Der Selfherding-Effekt:
Menschen wiederholen gern Aktivitäten, in denen sie früher mal siegreich waren. Dieses Verhalten wird „Selfherding“ genannt. Ähnlich dem Herdentrieb folgen wir unreflektiert der „Herde“ unserer Entscheidungen aus der Vergangenheit. Dies bewirkt, dass wir uns in unsere eigenen Ideen verlieben. Werden diese oft von Erfolg gekrönt, verfallen mache einem gefährlichen Glauben an die eigene Großartigkeit. „Dem ist sein Erfolg zu Kopf gestiegen“, weiß der Volksmund. Von Selbstzweifeln völlig befreit kann dies zu Allmachtsphantasien, zu Realitätsverlusten und zur Illusion der Unbesiegbarkeit führen. Und je höher man in der Hierarchie steht, desto anfälliger ist man für diesen Effekt.
2. Der Social-Proof-Effekt:
Dies ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen sich in ihrem Verhalten an dem ihrer Mitmenschen orientieren. Sie übernehmen oder imitieren deren Handlungen in der Annahme, dass diese in einer jeweiligen Situation angemessen sind. Weil es alle so machen, muss es wohl richtig sein, bilden wir uns ein. Dabei kann die Meinung der Masse ebenso als Referenz dienen wie die einer einzelnen Autorität. Zum Beispiel? Ist der Chef für oder gegen eine Sache, sind plötzlich alle dafür oder dagegen – bisweilen bewusst, oft aber unbewusst. „Executive Isolation“ ist eine gefährliche Folge. Obere bekommen nur noch zu hören, was sie hören wollen. Alle reden ihm nach dem Mund.
3. Der Besitztumseffekt:
Dieser Effekt besagt, dass Menschen dazu tendieren, eine Sache als wertvoller zu betrachten, sobald sie sie besitzen. Zudem suchen sie ständig nach Bestätigung für das, an das sie eh schon glauben. Gibt es hierbei Dissonanzen, lösen wir diese auf, indem wir eigene Meinungen und getroffene Entscheidung aufwerten und scheinbar plausible Erklärungen finden. Das gilt auch bei Regeln. Wir neigen tendenziell dazu, im betrieblichen Alltag Regeln, die wir befolgen, als nützlicher zu betrachten, als sie sind. Denn das Eingeständnis, einer unsinnigen Regel zu folgen, würde kognitive Dissonanz auslösen. Ähnliches gilt für Prozesse, Strukturen und Methoden. Wer sie entwickelt bzw. eingeführt hat, schätzt sie in ihrer Nützlichkeit oft höher ein und hält stärker an ihnen fest. Ergo: Die Lieblingsprojekte des Chefs sind tabu. Die lässt man besser in Ruh. Genau das steht notwendigen Neuerungen dann oft im Weg.
4. Die Verlustaversion:
Dies ist die Tendenz, mögliche Verluste höher zu gewichten als mögliche Gewinne. Nachgewiesen wurde diese Verhaltensbesonderheit vor allem mithilfe verschiedener Gewinnspielexperimente und auch an der Börse. Sie bezieht sich aber nicht nur auf monetäre Situationen, sondern ist universeller. In Organisationen macht sie sich etwa bei der Frage bemerkbar, ob eine alte Methode oder ein etabliertes Produkt durch etwas Neues ersetzt werden soll. Die möglichen Nachteile, die eine Abschaffung mit sich bringen kann, werden im Vergleich zu den möglichen Vorteilen des Neuen tendenziell überbewertet. Dies führt dazu, dass wir vieles am liebsten beim Alten belassen, selbst dann, wenn uns das zurückwirft.
5. Der Unterlassungseffekt:
Als Unterlassungseffekt wird die menschliche Vorliebe bezeichnet, die Risiken eines Handelns zu überbewerten und die Risiken des Nichthandelns zu unterschätzen. Also: Den anscheinend überflüssigen Prozess gibt man lieber doch nicht auf, denn wer weiß, vielleicht ist er noch für etwas gut. Dieser Effekt ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass in Gemeinschaften unerwünschte Handlungen in aller Regel stärker sanktioniert werden als Unterlassungen, auch dann, wenn die Folgen beider Optionen dieselben sind.
6. Die Status-quo-Verzerrung:
Ein Konzept, einen Prozess oder ein Ritual zu entsorgen, bedeutet immer auch eine Veränderung. Am liebsten haben es die meisten Menschen jedoch, wenn alles so bleibt, wie sie es kennen. Ein Grund: Jede Veränderung erfordert eine Anpassungsleistung des Gehirns, und das ist auf Energiesparen programmiert. So wird die übermäßige Bevorzugung des Status quo als Status-quo-Verzerrung bezeichnet. Die Macht der Gewohnheit hat uns in vielerlei Lebenslagen im Griff. Im Unternehmensalltag ist sie allgegenwärtig.
7. Der Selbstüberschätzungseffekt:
Hierbei neigen wir dazu, eine eigene Fähigkeit oder Leistung zu überschätzen – und die der anderen zu unterschätzen. So glauben 70 Prozent der Befragten von sich, dass sie Fake News erkennen und von ihnen nicht beeinflusst werden, trauen dies aber nur 8 Prozent der anderen Menschen zu. Und, ähnlich gefährlich: Während 80 Prozent der Führungskräfte denken, dass ihre Marke die Bedürfnisse der Kunden kennt, bestätigen das nur 15 Prozent der Verbraucher. Solch ein gewaltige Maß an Selbstüberschätzung finden wir im Management überall. Eng mit diesem Phänomen verwandt ist der Dunnig-Kruger-Effekt. Der Name geht auf Untersuchungen von David Dunning und Justin Kruger zurück. Im Kern geht es dabei um das Selbstverständnis inkompetenter Menschen, die das eigene Wissen und Können überbewerten. Vulgo: Sie haben keine Ahnung, dass sie keine Ahnung haben, wovon sie keine Ahnung haben. Sie schätzen die überlegenen Fähigkeiten anderer falsch ein und können das Ausmaß der eigenen Inkompetenz nicht erkennen.
8. Der Halo-Effekt:
Hierbei „überstrahlt“ eine positive oder negative Eigenschaft den Gesamteindruck, was zu Beurteilungsfehlern führen kann. Zum Beispiel: Wer groß ist, forsch auftritt, gut aussieht und gepflegte Manieren zeigt, dem traut man vielerlei Überragendes zu. Oder: Macht der junge Neuling einen Verbesserungsvorschlag, verpufft er. Greift ein Höhergestellter ihn später auf, wird er plötzlich bejubelt. Das perfide am Halo-Effekt: Er ist ein zerebraler Mechanismus, der sich kaum abstellen lässt. Natürlich sollten wir die Menschen nicht in Schubladen packen, unser Gehirn tut es aber doch. Ohne unser Zutun und in rasender Geschwindigkeit will es nämlich wissen: Freund oder Feind? Warum so eilig? Blitzschnell muss es erkennen: Bringt der andere uns Gutes oder droht uns Gefahr? In Momenten größter Bedrohung bräuchte jedes Nachdenken viel zu lange, um den Körper auf Alarm zu schalten. Daraus folgt: Nur eine veritable intellektuelle Kraftanstrengung kann uns in die Lage versetzen, sich dem Automatismus des Halo-Effekts stets neu zu entziehen.
Und was nun?
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Noch nicht ganz. In einem zweiten Schritt geht es nun darum, sich fortan vor den negativen Auswirkungen solcher Verzerrungen zu schützen. Dazu gibt es zwei Wege:
- Man kann sich in einer Selbstreflexion damit auseinandersetzen.
- Man kann sich als Gruppe in einem Workshop damit befassen.
Wer einen Workshop plant, kann z. B. das folgende Tableau dafür benutzen: